6.4 Scheitelpunktform

Wir haben in Abschnitt 6.3 untersucht, welche Auswirkungen eine Veränderung der Parameter a und c in einer quadratischen Funktion der Form

ℝ → ℝ, x ↦→ ax2+ bx+ c
hat, falls b = 0 ist. Es lässt sich zeigen, dass der Effekt einer Veränderung von b vom Parameter a abhängt. Da eine solche Abhängigkeit das Beschreiben der Effekte sehr kompliziert werden lässt, wollen wir zu einer Form quadratischer Funktionen übergehen bei der wir keine solche Abhängigkeit haben. Dazu definieren wir uns zunächst den Begriff des Scheitelpunktes des Graphen einer quadratischen Funktion.

6.4.1 Definition. Es sei f eine quadratische Funktion. Ist der Graph von f nach oben geöffnet, so nennen wir seinen tiefsten Punkt den Scheitelpunkt des Graphen von f oder einfach den Scheitelpunkt von f. Ist der Graph hingegen nach unten geöffnet, so bezeichnen wir seinen höchsten Punkt als Scheitelpunkt.

6.4.2 Beispiel. Wir zeichnen jeweils den nach oben geöffneten Graphen und den Scheitelpunkt von drei verschiedenen quadratischen Funktionen.

Das Gleiche für drei Funktionen deren Graphen nach unten geöffnet sind.

Aus den in den obigen Zeichnungen angegebenen Funktionsvorschriften ist meist nur schwer zu erkennen, wo sich der Scheitelpunkt des Graphen befindet. Wir wollen deshalb nun eine Form quadratischer Funktionen kennen lernen, mit Hilfe derer man den Scheitelpunkt besonders einfach ermitteln kann.

6.4.3 Satz. Es seien r,s,t ∈ ℝ und r≠0. Wir betrachten die quadratische Funktion

f : ℝ → ℝ, x ↦→ r⋅(x− s)2+ t
Dann ist (s,t) der Scheitelpunkt von f

6.4.4 Definition. Da nach Satz 6.4.3 der Scheitelpunkt einer quadratischen Funktion f der Form

f : ℝ → ℝ, x ↦→ r⋅(x− s)2+ t
sehr einfach zu bestimmen ist, nennen wir diese Form auch Scheitelpunktform von f oder kurz Scheitelform von f.

Beweis (von Satz 6.4.3). Die Öffnungsrichtung des Graphen von f wird durch den Parameter r kontrolliert. Ist r > 0, so zeigt die Parabel nach oben. Ist r < 0, so zeigt sie nach unten. Deshalb müssen wir in unserem Beweis genau diese beiden Fälle unterscheiden.

Fall 1: es sei r > 0. Dann ist der Graph von f eine nach oben geöffnete Parabel. Der Scheitelpunkt ist also der tiefste Punkt des Graphen. Wir wissen, dass das Quadrat jeder reellen Zahl ≥ 0 ist. Insbesondere gilt (x−s)2 ≥ 0 für alle x,s ∈ ℝ. Da zudem r > 0 gilt, ist auch das Produkt r⋅(x−s)2 ≥ 0. Addieren wir nun auf beiden Seiten t, so erhalten wir:

        2
r⋅(x− s) + t ≥ t
Wir wollen den niedrigsten Punkt des Graphen finden, das heißt wir suchen das x für das der Funktionswert f(x) = r⋅(x−s)2 +t minimal ist. Wir haben oben gesehen, dass r⋅(x−s)2 +t ≥ t gilt. Der Funktionswert kann also nicht kleiner als t sein. Setzen wir in die Funktion den Wert x = s ein, so erhalten wir
f(s)= r⋅(s− s)2+ t = r⋅0+ t = t
Die Funktion erreicht also ihren minimal möglichen Funktionswert (nämlich t) an der Stelle x = s. Daraus folgt, dass (s,t) der Scheitelpunkt ist.

Fall 2: es sei r < 0. Dann ist der Graph von f eine nach unten geöffnete Parabel, sodass der Scheitelpunkt der höchste Punkt des Graphen ist. Wir suchen also das x, für das der Funktionswert f(x) maximal ist. Auch hier gilt, dass (x−s)2 ≥ 0. Da aber nun r < 0 ist, so ist auch das Produkt

r⋅(x − s)2 ≤ 0
Addieren wir nun wieder t hinzu, so ergibt sich
        2
r⋅(x− s) + t ≤ t
Setzen wir wieder x = s ein, so erhalten wir
f(s)= r⋅(s− s)2+ t = r⋅0+ t = t
Das heißt, dass die Funktion f ihren maximal möglichen Funktionswert an der Stelle x = s annimmt. Also ist (s,t) auch in Fall 2 der Scheitelpunkt.

Wir haben damit schon geklärt, welchen Einfluss die Parameter s und t auf den Graphen einer in Scheitelpunktform gegebenen quadratischen Funktion haben: Sie bestimmen wo der Scheitelpunkt liegt. Eine Veränderung von s bewirkt also eine Verschiebung des Graphen in x-Richtung, eine Veränderung von t bewirkt eine Verschiebung in y-Richtung. Aber welche Bedeutung hat r? Eine Veränderung von r wirkt sich genauso aus wie der Parameter a bei quadratischen Funktionen der Form x↦ax2 +c. Das heißt er gibt an, in welche Richtung die Öffnung der Parabel zeigt und wie steil die Parabel ist.

Wir werden diese Sachverhalte in Zusammenfassung 6.5.1 und Zusammenfassung 6.5.2 alle kompakt auflisten. Danach kümmern wir uns um die Frage, wie man eine gegebene quadratische Funktion in Scheitelpunktform bringen kann. Zuerst schauen wir uns aber ein paar Beispiele von quadratischen Funktionen in Scheitelpunktform an.

6.4.5 Beispiel. Die folgenden quadratischen Funktionen sind in Scheitelpunktform gegeben:

1.
ℝ → ℝ, x↦(x−1)2 +1
2.
ℝ → ℝ, x↦3⋅(x+2)2 −2
3.
ℝ → ℝ, x↦14 ⋅(x+1)2 +1

Wir zeichnen die Graphen in je ein Koordinatensystem. Dort zeichnen wir auch die jeweiligen Scheitelpunkte ein.

6.4.6 Aufgabe. Gebt zu den folgenden quadratischen Funktionen in Scheitelpunktform je die Parameter r, s und t an. Gebt zudem je die Koordinaten des Scheitelpunktes an.

1.
f1 :  ℝ → ℝ, x↦x2
2.
f2 :  ℝ → ℝ, x↦−2⋅(x+4)2 −1
3.
f3 :  ℝ → ℝ, x↦−2x2 +3
4.
f4 :  ℝ → ℝ, x↦(x−2)2

Denkt dabei daran, dass das Multiplizieren mit 1 und das Addieren beziehungsweise Subtrahieren von 0 nichts am Wert einer Zahl ändert. So gilt zum Beispiel

x2 =   1⋅x2
 2           2
x  =   (x− 0)
x2 =   x2+ 0
für alle x ∈ ℝ.