10.4.1 Nullstellensatz

10.4.1 Satz (Nullstellensatz). Es seien a,b ∈ ℝ reelle Zahlen mit a < b. Ist f : [a,b] → ℝ eine stetige Funktion auf dem abgeschlossenen Intervall [a,b] und gilt f(a) ⋅f(b) < 0, so hat f in dem offenen Teil ]a,b[ mindestens eine Nullstelle.

10.4.2 Bemerkung. Die Bedingung f(a)⋅f(b) < 0 ist genau dann erfüllt, wenn

1.
Sowohl f(a) als auch f(b) von 0 verschieden sind, und
2.
die Zahlen f(a) und f(b) verschiedene Vorzeichen haben.

Das bedeutet, dass die Funktion f im linken Intervallrand a mit einem Wert > 0 startet und im rechten Intervallrand b mit einem Wert < 0 aufhört oder umgekehrt. Anschaulich liegt der Graph von f an der Stelle a auf der einen Seite der x-Achse und an der Stelle b auf der anderen Seite.

Also muss der Graph von f, bei stetigem Verlauf, im Intervall ]a,b[ mindestens einmal die x-Achse schneiden. Das heißt, dass die Funktion f in ]a,b[ mindestens einmal den Wert 0 annimmt, also eine Nullstelle hat.

Beweis. Wir nehmen ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass f(a) < 0 und f(b) > 0. Der Beweis für den anderen Fall funktioniert im Wesentlichen genauso. Wir präsentieren zuerst die Idee des Beweises und kümmern uns hinterher um die Einzelheiten.

Idee. Wir finden nach endlich vielen Schritten eine Nullstelle von f oder konstruieren uns rekursiv eine Folge von Intervallen

[a,b]= [a1,b1]⊃ [a2,b2]⊃ ...⊃ [an,bn]⊃ ...
so dass für alle n ∈ ℕ gilt:
                                    b − a
f (an) < 0< f(bn)    und    bn − an =--n−1-
                                    2
Des Weiteren sind die Folgen (an) und (bn) der Intervallgrenzen monoton und beschränkt, sodass (an) und (bn) konvergieren.

Folgerung. Es seien xa und xb die Grenzwerte von a beziehungsweise b. Da f stetig ist, konvergieren auch die Folgen (f(an)) und (f(bn)) und zwar gegen die Werte f(xa) beziehungsweise f(xb). Da aber f(an) < 0 < f(bn) für alle n ∈ ℕ, folgt

f(xa)≤ 0 ≤ f(xb)
Zudem gilt
                                       (      )
xb − xa = lim bn− lim an = lim(bn− an)= lim b−-a-  = 0
                                         2n−1
was bedeutet, dass xa und xb übereinstimmen. Setzen wir also x := xa = xb, so gilt
f(x)≤ 0 ≤ f(x)
Das ist aber nur möglich, wenn f(x) = 0 gilt. Der Grenzwert x der Folgen (an) und (bn) ist also eine Nullstelle von f.

Konstruktion. Zu Beginn setzen wir a1 := a und b1 := b. Nehmen wir nun an, [an,bn] sei für ein n ∈ ℕ schon konstruiert. Um an+1 und bn+1 zu konstruieren, betrachten wir den Intervallmittelpunkt

m := an+-bn
       2
Ist f(m) = 0, so haben wir eine Nullstelle von f im Intervall ]an,bn[ gefunden und sind fertig. Ist hingegen
  • f(m) < 0, so betrachten wir als nächstes die rechte Hälfte [m,bn] des Intervalls [an,bn]. Das heißt, wir setzen an+1 := m und bn+1 := bn.
  • f(m) > 0, so betrachten wir als nächstes die linke Hälfte [an,m] des Intervalls [an,bn]. Das heißt, wir setzen an+1 := an und bn+1 := m.

Fahren wir so fort, so erhalten wir entweder nach endlich vielen Schritten eine Nullstelle von f oder eine Intervallschachtelung wie in der Idee oben angegeben. Dass f(an) < 0 < f(bn) für alle n ∈ ℕ gilt, und dass die Folgen (an) und (bn) sowohl monoton, als auch beschränkt sind, folgt direkt aus der Konstruktion der Folgenglieder. Wir müssen also nur noch zeigen, dass

         b− a
bn− an = -n−1-
         2
für alle n ∈ ℕ gilt. Da wir in jedem Schritt der Konstruktion die Länge des gerade betrachteten Intervalls halbieren, gilt für alle n ∈ ℕ:
         bn− 1− an− 1               1
bn− an = ----2-----= (bn−1− an−1)⋅2-
Die Folge der Differenzen (bn−an) ist daher geometrisch mit Anfangsglied b1 −a1 = b−a und Quotient 12. Demnach hat die Differenz bn−an, wie behauptet, folgende direkte Berechnungsvorschrift:
b − a =  b−-a-
 n   n   2n−1

10.4.3 Bemerkung. Die Konstruktion im Beweis des Nullstellensatzes 10.4.1 kann man (theoretisch) nutzen, um Nullstellen einer gegebenen Funktion mit beliebiger Genauigkeit zu approximieren (das heißt soviel wie “annähern” beziehungsweise in unserem Fall “näherungsweise berechnen”). Betrachten wir etwa die Funktion

f :ℝ → ℝ, x ↦→ x-⋅sin(x)+ 1
              2
Dann gelten
1.
f(0) = 0+1 = 1 > 0 und
2.
f( 3π)
  ---
  2   =   3π
---
4⋅sin( 3π )
  ---
   2+1   =   3π
---
4⋅(−1)+1   <   0

Die Funktion f ist stetig auf ganz ℝ und damit insbesondere auch auf dem abgeschlossenen Intervall [  3π]
 0, 2. Laut dem Nullstellensatz 10.4.1 muss f dann eine Nullstelle in [  3π]
 0,2 besitzen. Wir wenden nun das im Beweis benutze Intervallschachtelungsverfahren an. Im ersten Schritt betrachten wir den Mittelpunkt

     0+ 32π   3π
m :=  --2---= -4-
des Intervalls [  3π]
 0,2-. Da
       3π   1
f(m )= ---⋅√---+1 > 0
        8    2
muss f laut dem Nullstellensatz eine Nullstelle im Intervall [m,3π]
    2 haben. Mit diesem Intervall stellen wir im nächsten Schritt genau die gleichen Überlegungen an...

Dieses Vorgehen können wir solange wiederholen, bis wir entweder eine (exakte) Nullstelle gefunden haben oder das Intervall klein genug ist, dass wir uns mit dem Mittelpunkt als Annäherung an eine Nullstelle von f zufrieden geben können. Wir führen die nächsten paar Schritte tabellarisch auf. Die Werte sind jeweils gerundet.

 Schritt n|Intervall [a ,b ]|Mittelpunkt m |  f(m)
---------|----------n-n--|-------------|----------
    1    |  [0; 4,7124]  |   2,3562    |  1,83304
         |               |             |
    2    |[2,3562; 4,7124] |   3,5343    |  0,32374
    3    |[3,5343; 4,7124] |   4,1233    |− 0,71423
         |               |             |
    4    |[3,5343; 4,1233] |   3,8288    |− 0,21446
    5    |[3,5343; 3,8288] |   3,6816    |  0,05357
         |               |             |
    6    |[3,6816; 3,8288] |   3,7552    |− 0,08116
    7    |[3,6816; 3,7552] |   3,7184    |− 0,01392
         |               |             |
    8    |[3,6816; 3,7184] |   3,7000    |  0,01980
         |               |             |
    9    |[3,7000; 3,7184] |   3,7092    |  0,00294
   10    |[3,7092; 3,7184] |   3,7138    |− 0,00549
         |               |             |
   11    |[3,7092; 3,7138] |   3,7115    |− 0,00128
   12    |[3,7092; 3,7115] |   3,71035    |  0,00083
Die Länge des Intervalls [3,7092; 3,7115] aus Schritt 12 beträgt 3,7115−3,7092 = 0,0023. Das heißt, der Mittelpunkt m = 3,71035 dieses Intervalls hat einen Abstand von höchstens 0,00115 zu einer tatsächlichen Nullstelle von f. Der Funktionswert von f in m ist f(m) = 0,00083. Wir wollen uns damit zufriedengeben und 3,71035 als eine hinreichend genaue Annäherung an eine Nullstelle von f akzeptieren.

Natürlich könnten wir dieses Verfahren noch weiterführen, um eine genauere Approximation zu erhalten. Nach zirka 30 weiteren Schritten hätten wir eine Annäherung, die auf 13 gültige Stellen genau ist: 3,710802830310. Der Betrag des Funktionswertes von f an dieser Stelle ist < 10−10.