10.1 Stetigkeit

10.1.1 Notation. Es sei (an)n∈ℕ eine Folge reeller Zahlen. Zudem sei M ⊆ ℝ eine Teilmenge von ℝ. Ist jedes Glied an der Folge ein Element der Menge M, das heißt ist an ∈ M für alle n ∈ ℕ, so schreiben wir (an) ⊆ M. In diesem Fall bezeichnen wir (an) auch als eine Folge in M.

10.1.2 Definition. Es sei D⊆ ℝ eine Teilmenge von ℝ und f : D→ ℝ eine Funktion. Ist a∈D, so nennen wir f stetig an der Stelle a oder stetig in a, wenn für alle Folgen (xn) ⊆ D gilt:

   n → ∞                      n → ∞
xn−−−−−−→ a     =⇒      f(xn)−−−−−−→  f(a)
Das heißt, wenn für alle Folgen (xn) ⊆ D die gegen a konvergieren, auch die Folge (f(xn)) konvergiert und zwar gegen f(a).

Ist f stetig in jedem a ∈ D, das heißt stetig an jeder Stelle des Definitionsbereiches, so bezeichnen wir f als stetig in D oder einfach als stetig.

10.1.3 Bemerkung. In verständlicheren Worten ausgedrückt, bedeutet die Stetigkeit an einer Stelle a folgendes: Rücken wir mit x immer näher an a heran, so rückt der Funktionswert f(x) auch immer näher an f(a). Anschaulich bedeutet dies, dass die Funktion an der Stelle a keine Sprungstelle hat. Ein Gegenbeispiel wäre etwa die Funktion mit folgendem Graphen.

Der Graph springt von der Geraden auf die Parabel. Der ausgemalte Punkt soll anzeigen, dass das Ende der Gerade noch zum Graphen dazugehört. Der hohle Punkt bedeutet, dass das Ende der Parabel nicht mehr zum Graphen gehört. Das heißt, der Funktionswert an der Stelle 1 ist 1, nicht -2.

Was passiert bei dieser Funktion, wenn wir uns der Stelle a = 1 nähern? Nun, nähern wir uns von links (also entlang der Geraden) so passiert genau das, was wir sehen wollen. Je näher x an 1 herankommt, desto näher rückt die y-Koordinate an den Funktionswert f(1) = 1 heran. Nähern wir uns aber von recht (also entlang der Parabel), so rückt die y-Koordinate immer näher an die -2 heran und damit nicht an den tatsächlichen Funktionswert. Die Funktion ist daher nicht stetig an der Stelle a = 1.

10.1.4 Beispiel.

1.
Für alle a,b,c ∈ ℝ und jede beliebige Definitionsmenge D ⊆ ℝ sind die folgenden Funktionen stetig:
  • f : D → ℝ,x↦a (Konstante Funktionen)
  • f : D → ℝ,x↦ax+b (Lineare Funktionen)
  • f : D → ℝ,x↦ax2 +bx+c (Quadratische Funktionen)

Da wir Stetigkeit über die Konvergenz von Folgen definiert haben, folgt die Stetigkeit der angegebenen Funktionen direkt aus den Grenzwertsätzen 9.5.12.

Wir zeigen dies exemplarisch für Funktionen der Form f : D → ℝ,x↦ax2 +bx+c. Sei dazu (xn)n∈ℕ ⊆ D eine Folge in D, die gegen einen Wert w ∈ D konvergiert. Dann konvergiert laut den Grenzwertsätzen auch die Folge (a⋅xn⋅xn+b⋅xn+c)n∈ℕ. Genauer gesagt gilt:

                             n→  ∞
f(xn)  =  a⋅xn⋅xn+ b⋅xn+ c   −−− −−−→    a⋅w ⋅w +b ⋅w+ c  =  f(w)
Das heißt, die Folge (f(xn))n∈ℕ konvergiert gegen f(w). Also ist f stetig in w.
2.
Die Betragsfunktion f : ℝ → ℝ,x↦|x| ist stetig. Dies folgt ebenfalls aus dem passenden Satz über die Konvergenz von Folgen. Genauer gesagt gilt laut Betragssatz 9.5.17: Konvergiert die Folge (xn)n∈ℕ gegen einen Wert a, so konvergiert auch die Folge (|xn|)n∈ℕ und zwar gegen |a|.
3.
Die Wurzelfunktion f : ℝ≥0 → ℝ,x↦√x-  ist stetig. Dies folgt aus dem Wurzelsatz 9.5.16.
4.
Die Funktion f : ℝ∖{0}→ ℝ,x↦1x  ist stetig auf ihrem Definitionsbereich, denn für jede Folge (xn)n∈ℕ in ℝ∖{0}, die gegen einen Wert a ∈ ℝ∖{0} konvergiert, dürfen wir den Grenzwertsatz für Quotienten benutzen. Das heißt wir erhalten:
       1    n→  ∞   1
f(xn) = --  −−− −−−→   --= f(a)
       xn           a
Schaut man sich den Graphen an, so verwundert dieses Resultat zunächst. Man würde vermuten, dass die Funktion an der Stelle 0 nicht stetig ist.

In der Tat ist es aber so, dass über das Verhalten an der Stelle 0 überhaupt keine Aussage getroffen werden kann, da 0 nicht Teil der Definitionsmenge ist. Der Graph hat dort also lediglich eine Definitionslücke und keine Sprungstelle.

5.
Jede Funktion f : ℤ → ℝ mit den ganzen Zahlen als Definitionsbereich ist stetig. Anschaulich liegt das daran, dass eine Folge in ℤ sich einer ganzen Zahl nicht “langsam” beziehungsweise “nach und nach” nähern kann: da die Glieder einer solchen Folge ganze Zahlen sind, sind auch ihre Abstände voneinander ganzzahlig. Den geringsten Abstand, den zwei ganze Zahlen zueinander haben können, ohne bereits gleich zu sein, beträgt 1. Daraus folgt, dass eine Folge (xn)n∈ℕ in ℤ, die gegen eine Zahl a ∈ ℤ konvergiert, ab einem gewissen Index n0 konstant gleich a sein muss. Dann ist aber auch die Folge (f(xn))n∈ℕ der Funktionswerte ab dem Index n0 konstant. Genauer gesagt gilt dann f(xn) = f(a) für alle n ≥ n0. Die Folge (f(xn))n∈ℕ konvergiert also gegen f(a).
6.
Die abschnittsweise definierte Funktion
              (
              |||| − 1  falls x< 0
              |{
f :ℝ → ℝ, x↦→      0  falls x= 0
              ||||
              |(   1  falls x> 0
ist überall stetig, außer in 0. Um die Stetigkeit in 0 formal zu widerlegen, geben wir explizit eine Nullfolge (xn)n∈ℕ in ℝ an, für die die Folge (f(xn))n∈ℕ der Funktionswerte nicht gegen f(0) konvergiert.

Betrachten wir etwa die harmonische Folge (1-)
  nn∈ℕ, so gilt f(1)
 n = 1 für alle n ∈ ℕ. Das heißt, es gilt

    (  )                  (     )
      1                        1
lim f  n- = 1 ⁄= 0= f (0 )= f  lim n-
Also ist f nicht stetig in 0. Dies ist auch anschaulich klar, wenn man den Graphen in der Nähe von 0 skizziert: Er hat eine echte Sprungstelle. Nähert man sich von rechts der 0, so sind die Funktionswerte konstant 1. Nähert man sich von links der 0, so sind die Funktionswerte konstant −1. An der Stelle 0 selbst, ist der Funktionswert aber 0.

Die Funktion f bezeichnet man übrigens als Vorzeichenfunktion und schreibt meist sgn statt f (vom lateinischen Wort signum für Zeichen).

7.
Nimmt man aus der Definitionsmenge der Vorzeichenfunktion nun die 0 heraus, so ist die resultierende Funktion
                  (
                  | − 1  falls x < 0
                  {
f :ℝ ∖ {0}→ ℝ,x↦→  |(
                      1  falls x > 0
auf ganz ℝ∖{0} stetig. Wie schon in Teilbeispiel 4 würde auch hier der Graph wieder vermuten lassen, dass die Funktion an der Stelle 0 nicht stetig ist. Wie auch dort, haben wir es hier aber nicht mit einer Sprungstelle, sondern mit einer Definitionslücke zu tun.