5.7 Lösungsverfahren: grafisches Lösen

5.7.1 Lösungsverfahren (grafisches Lösungsverfahren). Wir kommen nun zum grafischen Lösungsverfahren. Dazu rufen wir uns zunächst in Erinnerung, dass die Lösungsmenge einer linearen Gleichung in zwei Variablen eine Gerade ist (vergleiche Abschnitt 5.2 über lineare Funktionen). Wollen wir nun herausfinden, welche Punkte Lösungen eines gegebenen Gleichungssystems sind, so können wir die Lösungsmengen der einzelnen Gleichungen als Geraden darstellen. Punkte in denen sich alle diese Geraden schneiden, sind Lösungen des Gleichungssystems.

Um dieses Verfahren zu verdeutlichen, betrachten wir einige Beispiele. Dabei erklären wir auch, wie man die Lösungsmengen recht einfach und schnell zeichnen kann. Um Formulierungen zu erleichtern, bezeichnen wir die Lösungsmengen der betrachteten linearen Gleichungen auch als Lösungsgeraden.

Beispiel 1: Wir betrachten das Gleichungssystem

[               ]
  x  +  y  =  4
  x  −  y  =  0
Eine Gerade ist durch zwei ihrer Punkte eindeutig bestimmt. Genauer gesagt, gibt es zu je zwei verschiedenen Punkten in der Koordinatenebene genau eine Gerade die durch diese beiden Punkte verläuft.

Um die Lösungsgerade einer linearen Gleichung zeichnen zu können, müssen wir also nur zwei ihrer Punkte bestimmen, das heißt wir müssen zwei Lösungen der betrachteten Gleichung finden. Dazu wählen wir uns einfach eine x- oder eine y-Koordinate beliebig aus und testen dann, ob es eine Lösung der Gleichung gibt, die diese x- beziehungsweise y-Koordinate hat. Dabei ist es meist am einfachsten, 0 als Koordinate zu wählen.

Wir führen dies nun für Gleichung I vor.

  • Zunächst setzen wir x gleich 0, das heißt wir wählen die x-Koordinate 0. Damit die Gleichung x+y = 4 (beziehungsweise 0+y = 4 nach dem Einsetzen) immer noch erfüllt ist, muss y = 4 sein. In der Tat ist (0,4) eine Lösung der Gleichung x+y = 4.
  • Setzen wir in Gleichung I nun y gleich 0, so erhalten wir, dass x = 4 sein muss. Damit haben wir einen zweiten Punkt auf der Lösungsgeraden errechnet, nämlich (4,0).
  • Wir können diese beiden Punkte nun in einem Koordinatensystem einzeichnen und durch eine Gerade verbinden. Die so erhaltene Gerade ist die Lösungsgerade von Gleichung I.

Bei Gleichung II kommen wir etwas einfacher an Lösungen. Die Gleichung x−y = 0 lässt sich durch Addieren von y auf beiden Seiten leicht in die Gleichung x = y umformen. Also ist jeder Punkt (x,y), bei dem die beiden Koordinaten übereinstimmen, eine Lösung der Gleichung. Dies trifft beispielsweise auf die Punkte (0,0) und (1,1) zu.

Zeichnen wir anhand dieser beiden Punkte auch die Lösungsgerade von Gleichung II in unser Koordinatensystem, so ergibt sich folgendes Bild:

Die zwei Lösungsgeraden schneiden sich in genau einem Punkt, nämlich (2,2). Dieser Punkt ist die einzige Lösung des Gleichungssystems, das heißt die Lösung ist eindeutig bestimmt.

Beispiel 2: Wir betrachten nun das Gleichungssystem

[                 ]
   x  −  3y  =  4
  2x  −  6y  =  8
Gehen wir wie in Beispiel 1 vor, so ergibt sich etwa das Bild

Es scheint, als sei in diesem Koordinatensystem nur eine Gerade eingezeichnet. Das liegt daran, dass die Lösungsgeraden von Gleichung I und Gleichung II übereinstimmen. In diesem Fall sind alle Punkte auf der Geraden Lösungen des Gleichungssystems, denn jede Lösung der ersten Gleichung ist auch eine Lösung der zweiten Gleichung und umgekehrt. Das heißt, das Gleichungssystem hat unendlich viele Lösungen. Insbesondere ist die Lösung nicht eindeutig bestimmt.

Beispiel 3: Die Lösunsgeraden der beiden Gleichungen im Gleichungssystem

[                   ]
   3x  +   2y  =  5
  − 3x −   2y  =  3
sind parallel und stimmen nicht überein, sie schneiden sich also in keinem Punkt. In diesem Fall hat das Gleichungssystem keine Lösung. Wir zeichnen die Lösungsgeraden wieder in ein Koordinatensystem.

Beispiel 4: In diesem und im nächsten Beispiel betrachten wir je ein Gleichungssystem mit drei Gleichungen.

⌊                     ⌋
|  2x  −     y  =   1 |
⌈ − x  −    3y  =  10 ⌉
          − 4y  =  12
Die Gleichung −4y = 12 schreibt einen genauen Wert (nämlich −3) für y vor, hängt aber nicht von x ab. Das bedeutet, dass jeder beliebige Punkt (x,−3) eine Lösung der Gleichung −4y = 12 ist. Die Lösungsgerade ist also eine Parallele zur x-Achse. Wir zeichnen diese und die beiden anderen Lösungsgeraden in ein gemeinsames Koordinatensystem.

Die drei Geraden haben genau einen gemeinsamen Punkt, nämlich (−1,−3). Dieser ist daher auch die einzige Lösung des Gleichungssystems.

Beispiel 5: Nun betrachten wir das Gleichungssystem

⌊                   ⌋
|  x  −  3y  =   − 1 |
⌈ 3x  −  2y  =    6 ⌉
   x         =    4
Wie in Beispiel 4 haben wir hier eine Gleichung (nämlich x = 4), die nur von einer Variablen abhängt. Diese schreibt für x einen genauen Wert vor und ist unabhängig von y. Ihre Lösungsgerade ist daher eine Parallele zur y-Achse. Wir zeichnen wieder die Lösungsmengen der drei Gleichungen in ein Koordinatensystem.

Hier gilt es zu beachten, dass je zwei der Geraden einen Schnittpunkt besitzen, es aber keinen Punkt gibt, der auf allen drei Geraden liegt. Es gibt also keinen Punkt, der alle drei Gleichungen gleichzeitig erfüllt. Daher hat das Gleichungssystem keine Lösung.

5.7.2 Tipps. In den Erklärungen zum grafischen Lösungsverfahren 5.7.1 sind wir schon darauf eingegangen, wie man Lösungsmengen von linearen Gleichungen in zwei Variablen einfach und schnell zeichnen kann.

Wir wollen hier nur noch die Vor- und Nachteile dieses Lösungsverfahrens beschreiben. Ein Vorteil ist, dass man dieses Verfahren durchaus schneller abwickeln kann als die beiden anderen, die wir vorgestellt haben. Ein weiterer ist, dass das Zeichnen von Geraden und Ablesen von Schnittpunkten sehr anschaulich ist. Insbesondere kann es dabei helfen, zu verstehen, worum es beim Lösen von Gleichungssystemen überhaupt geht.

Allerdings haftet dem Zeichnen und Ablesen immer eine gewisse Ungenauigkeit an, was ein wesentlicher Nachteil ist, wenn es darum geht exakte Lösungen zu finden. Beispielsweise würde man in einem Koordinatensystem mit der Skalierung “1 Einheit = 1cm” den Punkt (99  199)
  100,100 vermutlich fälschlicherweise als (1,2) ablesen. Ist Genauigkeit wichtig, so bietet sich das grafische Verfahren lediglich dazu an, das Problem zu veranschaulichen und eine Idee dafür zu bekommen, wo die Lösungen ungefähr liegen.

5.7.3 Bemerkung. Im Abschnitt 5.3 über Graphen linearer Funktionen sind wir darauf eingegangen, wie man Geraden anhand ihrer Funktionsvorschrift zeichnen kann. Diese Technik lässt sich dank des engen Zusammenhangs zwischen Geradengleichung und Funktionsvorschrift (siehe Abschnitt 5.2) auf das grafische Lösungsverfahren übertragen. Dazu müssen wir zunächst im gegebenen linearen Gleichungssystem alle Gleichungen, die ein y enthalten, durch Äquivalenzumformungen in die Form

y = ax+ b
bringen. Da die Lösungsmenge dieser Gleichung dem Graphen der Funktion
f :ℝ → ℝ, x↦→  ax+ b
entspricht, können wir Vorgehensweise 5.3.11 benutzen, um die Gerade zu zeichnen.

5.7.4 Aufgabe. Gegeben sind die folgenden linearen Gleichungssysteme:

1.
[                 ]
  x  +  3y  =   0
  x  −   y  =   0
2.
[                   ]
  2x  +   y  =    1

   x  +  2y  =   − 1
3.
⌊                  ⌋
  3x  −   2y  =  6
⌈ 1       1        ⌉
  2x  −   3y  =  1
4.
[                  ]
  2x  +   y  =   3
  6x  +  3y  =   3

Benutze das grafische Lösungsverfahren, um alle reellen Lösungen zu bestimmen, deren x- und y-Werte zwischen −5 und 5 liegen.