5.3 Graphen linearer Funktionen

5.3.1 Wichtiger Hinweis. In diesem Abschnitt sprechen wir oft davon, dass wir Punkte von einer Zeichnung des Graphen ablesen. Diese Technik wenden wir hier nur an, um ein besseres Verständnis der behandelten Begriffe und Zusammenhänge zu ermöglichen. In der Praxis sollte man dies aber lassen, da die Zeichnung eines Graphen immer ungenau und meist auch unvollständig ist. Daher ist sie nicht geeignet, exakte Aussagen über den dargestellten Funktionsgraphen (beziehungsweise die zugrunde liegende Funktion) zu treffen.

Wenn möglichst genaue Werte gefragt sind, muss man diese in der Regel rechnerisch bestimmen. Zeichnungen sollten lediglich dazu verwendet werden, sich einen Überblick zu verschaffen, sich die behandelten Objekte zu veranschaulichen und/oder grobe Tendenzen zu erkennen.

Wie in Beispiel 5.2.2 erwähnt, gilt: Die Graphen aller linearen Funktionen sind Geraden, genauer gesagt, Geraden die nicht parallel zur y-Achse verlaufen. Wir definieren nun zwei Begriffe, die uns sowohl beim Zeichnen von Graphen linearer Funktionen als auch beim Ermitteln passender Funktionsvorschriften zu gegebenen Graphen helfen werden.

5.3.2 Definition. Es sei G eine Gerade, die nicht parallel zur y-Achse verläuft. Des Weiteren seien (x1,y1) und (x2,y2) zwei verschiedene Punkte auf der Geraden G. Dann nennen wir die Zahl

y2− y1
------
x2− x1
die Steigung von G.

Es sei (0,y0) der Schnittpunkt von G mit der y-Achse. Dann bezeichnen wir y0 als den y-Achsenabschnitt der Geraden G.

Ist G der Graph einer linearen Funktion f, so bezeichnen wir die Steigung von G auch als die Steigung von f. Zudem nennen wir y0 auch den y-Achsenabschnitt von f.

5.3.3 Bemerkung. Wir wollen an dieser Stelle begründen, warum wir in Definition 5.3.2 durch x2 −x1 teilen dürfen. Wir setzen dort voraus, dass die betrachtete Gerade keine Parallele zur y-Achse ist. Daher können die x-Koordinaten zweier verschiedener Punkte der Geraden nicht übereinstimmen. Das heißt, dass die Zahl x2 −x1 von 0 verschieden ist.

Aus demselben Grund ist der Schnittpunkt von G mit der y-Achse eindeutig bestimmt. Da alle Punkte auf der y-Achse von der Form (0,y) sind, ist insbesondere der betrachtete Schnittpunkt von dieser Form. Es kann aber nur einen Punkt auf der Geraden geben, der die x-Koordinate 0 hat.

5.3.4 Beispiel. Wir betrachten die Gerade, die durch die beiden Punkte (x1,y1) = (2,3) und (x2,y2) = (6,5) verläuft.

Den Schnittpunkt mit der y-Achse können wir direkt ablesen: (0,2). Das heißt, der y-Achsenabschnitt ist 2.

Wir wollen nun die Steigung ermitteln. Dazu bilden wir die Differenz der x-Koordinaten der beiden gegebenen Punkte und die Differenz der y-Koordinaten der beiden Punkte. Dabei müssen wir darauf achten, dass wir bei beiden Differenzen die gleiche Reihenfolge verwenden. Wir werden hier jeweils die Koordinate des Punktes (2,3) von der entsprechenden Koordinate des Punktes (6,5) abziehen. Dadurch ergibt sich ein Wert von

y2− y1   5− 3   2   1
x-−-x-=  6−-2-= 4-= 2-
 2   1
für die Steigung.

Wir hätten die Reihenfolge auch bei beiden Differenzen vertauschen können.

y1−-y2   3−-5-  −-2   1-
x1− x2 = 2− 6 = − 4 = 2
Mischen wir die Reihenfolgen aber, so ergibt sich ein falsches Vorzeichen.
y2−-y1 = 5-− 3-=-2- = − 1-
x1− x2   2 − 6  − 4     2

5.3.5 Beispiel. Um den Steigungsbegriff besser veranschaulichen zu können, stellen wir uns vor, dass wir mit einem Auto von links nach rechts auf der Geraden entlangfahren. Dann sagt uns die Steigung, wie weit wir uns in y-Richtung bewegen müssen, wenn wir uns um 1 Einheit in x-Richtung bewegen wollen.

Fährt man etwa entlang einer Geraden mit Steigung 1
2, so muss man für jeden Meter den man sich in x-Richtung bewegen will, auch 12 Meter in y-Richtung zurücklegen.

Mit dieser Anschauung kann man auch leicht zwischen positiver und negativer Steigung unterscheiden. Fährt man die Gerade hinauf , so ist die Steigung positiv; fährt man die Gerade hinab, so ist die Steigung negativ; fährt man weder hinauf noch hinab, so ist die Steigung gleich 0.

Bei einer Steigung von −1 etwa, muss man sich für jede Einheit, die man in x-Richtung zurücklegt, auch um −1 Einheit in y-Richtung bewegen. Im Koordinatensystem heißt das, dass man genauso viele Einheiten nach unten fahren muss, wie man nach rechts fährt.

Eine Steigung von 0 bedeutet, dass sich die y-Koordinate überhaupt nicht verändert, wenn man auf der Geraden entlangfährt. Die Gerade ist also eine Parallele zur x-Achse.

5.3.6 Aufgabe. Im folgenden Koordinatensystem sind drei Geraden eingezeichnet. Gib zu jeder der Geraden den y-Achsenabschnitt und die Steigung an.

5.3.7 Beispiel. Die Anschauung aus Beispiel 5.3.5 machen wir nun mathematisch etwas exakter, indem wir unser Auto so klein wählen, dass es lediglich aus einem Punkt besteht. Da in einem solchen Auto nur wenig Platz ist, fahren wir diesmal nicht damit, sondern schieben es die Gerade entlang.

Wir können uns die Steigung also als ein Maß dafür vorstellen, wie sehr sich die y-Koordinate eines Punktes verändert, wenn man ihn entlang der Geraden um eine Einheit in x-Richtung verschiebt.

Schauen wir uns konkret die Gerade mit Steigung 12 an, die durch den Punkt P = (2,3) verläuft und die wir schon in Beispiel 5.3.4 betrachtet haben. Wir verschieben den Punkt P entlang der Geraden um 4 in x-Richtung und erhalten einen Punkt Q = (6,yQ), von dem wir die y-Koordinate zunächst nicht kennen. Unsere Anschauung sagt uns, dass die y-Koordinate von Q um 4⋅1
2 weiter oben liegen muss als die von P. Dies werden wir gleich noch rechnerisch verifizieren.

Wir weisen nun auch rechnerisch nach, dass unsere Idee korrekt ist. Dazu benutzen wir die Steigung, um die y-Koordinate von Q zu berechnen. Schreiben wir P = (xP,yP) und Q = (xQ,yQ), so gilt laut Definition 5.3.2 der Steigung einer Geraden:

1-  yQ-−-yP   yQ−-3-
2 = xQ − xP = 6− 2
Nach einigen Umformungen ergibt sich daraus die y-Koordinate von Q.
pict

Also ist die y-Koordinate von Q gleich 5. Da die y-Koordinate von P gleich 3 ist, haben wir hier eine Veränderung um den Wert

    1
2=  -⋅4
    2
In Worten: Die y-Koordinate verändert sich um das Produkt aus der Steigung und der Veränderung in x-Richtung. In der Tat gilt diese Aussage für alle Geraden, die nicht parallel zur y-Achse sind.

5.3.8 Verallgemeinerung (von Beispiel 5.3.7). Wir können uns auch von den konkreten Koordinaten der Punkte loslösen und die obigen Gleichungsumformungen in aller Allgemeinheit durchführen. Dazu betrachten wir eine Gerade mit Steigung s∈ ℝ, die durch die beiden voneinander verschiedenen Punkte P = (xP,yP) und Q = (xQ,yQ) verläuft. Dann gilt

y − y
-Q---P-= s
xQ− xP
Wir formen diese Gleichung ein Wenig um.
pict

Wir stellen uns vor, dass wir den Punkt P entlang der Geraden verschieben, bis wir am Punkt Q angekommen sind. Dann sagt uns die obige Gleichung, dass die Veränderung in y-Richtung (yQ−yP) gleich dem Produkt s⋅(xQ−xP) aus der Steigung s und Veränderung in x-Richtung (xQ−xP) ist.

Führen wir noch weitere Umformungen durch, so erhalten wir eine Gleichung, die uns direkt zu dem führt, was wir bald als Geradengleichung bezeichnen werden.

pict

Haben wir nun einen konkreten Punkt P und die Steigung s gegeben, so setzt diese Gleichung die x- und y-Koordinaten eines beliebigen Punktes Q der Geraden unmittelbar in Beziehung. Betrachten wir beispielsweise wieder s = 1
2 und P = (2,3), so erhalten wir die konkrete Gleichung

yQ = 1⋅(xQ− 2)+ 3
     2
Wissen wir nun, dass Q die x-Koordinate xQ = 6 hat, so können wir die y-Koordinate direkt berechnen.
       1-               1-
yQ  =  2 ⋅(6 − 2)+ 3 =   2 ⋅4+ 3 =  2+ 3  =  5
Diese Gleichung ist aber nicht nur für solche konkreten Berechnungen zu gebrauchen, sondern liefert uns auch eine sehr allgemeine Aussage: Da Q ein beliebiger Punkt der Geraden sein darf, muss diese Gleichung von jedem Punkt der Geraden erfüllt werden. Ist also A = (x,y) ein beliebiger Punkt der Geraden, so gilt
    1
y=  2 ⋅(x− 2)+ 3
In der Tat besteht die Gerade genau aus den Punkten, die diese Gleichung erfüllen. Diesen Sachverhalt behandeln wir im Folgenden noch genauer.

5.3.9 Bemerkung und Definition. Es sei G eine Gerade in der reellen Koordinatenebene. Ist G nicht parallel zur y-Achse, dann gibt es eindeutig bestimmte Zahlen a,b ∈ ℝ für die gilt: Die Gerade G besteht genau aus den Punkten, die die Gleichung

y = ax+ b
erfüllen. Genauer gesagt, entspricht a der Steigung und b dem y-Achsenabschnitt von G.

Sind umgekehrt zwei beliebige Zahlen a,b ∈ ℝ gegeben, so ist die Lösungsmenge der Gleichung

y = ax+ b
eine Gerade mit Steigung a und y-Achsenabschnitt b. Aus diesem Grund bezeichnet man Gleichungen dieser Form auch gerne als Geradengleichungen.

Da zwischen linearen Funktionen und linearen Gleichungen ein enger Zusammenhang besteht (wie wir in Abschnitt 5.2 erläutert haben), lässt sich dieses Resultat direkt auf lineare Funktionen übertragen.

5.3.10 Satz. Es sei f : ℝ → ℝ, x↦ax+b  eine lineare Funktion. Bezeichnen wir mit G den Graphen von f, so gilt:

1.
Der Graph G von f ist eine Gerade die nicht parallel zur y-Achse verläuft.
2.
Die Steigung von G ist gleich a.
3.
Der y-Achsenabschnitt von G ist gleich b.

Beweis. Wir begründen zuerst, dass der Graph von f nicht parallel zur y-Achse sein kann. Eine Parallele zur y-Achse besteht aus Punkten der Form (x0,y) für ein bestimmtes x0 ∈ ℝ. Wäre der Graph von f also parallel zur y-Achse, so würde f keiner reellen Zahl außer x0 überhaupt etwas zuordnen, dafür aber der Zahl x0 alle reellen Zahlen zuordnen. Beides widerspricht der Definition einer Funktion.

Wir zeigen nun, dass a gleich der Steigung des Graphen ist. Dazu seien (x1,y1) und (x2,y2) zwei verschiedene Punkte auf dem Graphen. Da alle Punkte des Graphen von der Form (x,f(x)) sind, gilt y1 = f(x1) und y2 = f(x2). Das heißt, es gilt auch

pict

Mit einer zu Bemerkung 5.3.3 ähnlichen Begründung, dürfen wir durch x2 −x1 dividieren und erhalten schließlich

    f (x2)− f(x1)   y2− y1
a = ------------=  ------
       x2− x1      x2− x1
Das heißt, der Parameter a in der Funktionsvorschrift von f entspricht der Steigung des Graphen von f.

Kommen wir nun zum y-Achsenabschnitt. Der Schnittpunkt des Graphen von f mit der y-Achse ist sowohl von der Form (x,f(x)), als auch von der Form (0,y). Der einzige Punkt, der dies erfüllt, ist (0,f(0)). Das heißt, der y-Achsenabschnitt ist gleich dem Funktionswert von f an der Stelle 0. Da

f (0) = a⋅0+ b = b
gilt, entspricht der y-Achsenabschnitt gerade dem Parameter b. □

Wir besitzen nun alle nötigen Mittel, sowohl um den Graphen einer gegebenen linearen Funktion zu zeichnen, als auch um zu einem gegebenen Graphen eine passende Funktionsvorschrift anzugeben.

5.3.11 Allgemeine Vorgehensweise (Graphen linearer Funktionen zeichnen). Graphen linearer Funktionen haben die Form von Geraden. Jede Gerade ist durch zwei ihrer Punkte eindeutig bestimmt. Genauer gesagt gibt es zu je zwei voneinander verschiedenen Punkten im Koordinatensystem genau eine Gerade, die durch diese beiden Punkte verläuft.

Dies legt folgende Taktik nahe, um den Graphen einer linearen Funktion zu zeichnen: Wir bestimmen zwei verschiedene Punkte, die auf dem Graphen liegen, und zeichnen dann die Gerade, die durch diese Punkte verläuft.

Gehen wir davon aus, dass eine lineare Funktion

f :ℝ → ℝ, x↦→  ax+ b
gegeben ist, so können wir nach Satz 5.3.10 die Steigung und den y-Achsenabschnitt des Graphen von f direkt aus der Funktionsvorschrift ablesen: a ist die Steigung und b ist der y-Achsenabschnitt. Da der y-Achsenabschnitt aber nichts anderes ist als die y-Koordinate des Schnittpunktes des Graphen und der y-Achse, kennen wir schon einen Punkt auf dem Graphen, nämlich (0,b).

Nach der Anschauung aus Beispiel 5.3.7 gibt die Steigung an, wie sich die y-Koordinate eines Punktes auf der Geraden verändert, wenn wir ihn entlang der Geraden um 1 Einheit nach rechts verschieben. Das heißt, dass der Punkt (0+1,b+a) auch auf der Geraden liegt.

Wir haben nun also zwei verschiedene Punkte auf dem zu zeichnenden Graphen bestimmt, nämlich (0,b) und (1,b+a). Wir müssen nun nur noch die Gerade zeichnen, die durch diese beiden Punkte verläuft.

5.3.12 Beispiel. Wir betrachten die lineare Funktion

f :ℝ →  ℝ,x↦→  − 2x+ 3
Der Graph von f hat die Steigung −2 und den y-Achsenabschnitt 3. Daraus ergibt sich, dass der Graph die y-Achse im Punkt (0,3) schneidet. Des Weiteren erhalten wir wieder einen Punkt auf dem Graphen, wenn wir, von (0,3) aus, 1 Einheit nach rechts und −2 Einheiten nach oben (das heißt 2 Einheiten nach unten) gehen. Demnach liegt auch (0+1,3−2) = (1,1) auf dem Graphen.

Der Graph von f ist also gleich der Geraden, die durch die beiden Punkte (0,3) und (1,1) verläuft.

5.3.13 Bemerkung. Der Graph einer linearen Funktion  f : ℝ → ℝ, x↦ax+b  enthält genau die Punkte, die die Geradengleichung

y = ax+ b
erfüllen. Wollen wir also zwei Punkte bestimmen, die auf dem Graphen von f liegen, so können wir auch einfach gewisse Werte für x einsetzen und dann nach y auflösen (oder umgekehrt).

Bei der Formulierung der allgemeinen Vorgehensweise 5.3.11 und Beispiel 5.3.12 sind wir den etwa genauso aufwendigen Weg über y-Achsenabschnitt und Steigung gegangen, weil dieser anschaulicher ist und die Gelegenheit bietet, die in diesem Abschnitt eingeführten Begriffe und Zusammenhänge weiter zu verdeutlichen und zu verinnerlichen. Wir werden den Weg über die Geradengleichung aber in Abschnitt 5.7 noch besser kennenlernen.

5.3.14 Aufgabe. Zeichne die Graphen folgender linearer Funktionen:

1.
f1 : ℝ → ℝ, x↦x+3
2.
f2 : ℝ → ℝ, x↦−3x+1
3.
f3 : ℝ → ℝ, x↦2
3x
4.
f4 : ℝ → ℝ, x↦−0,2⋅x−2

Gib zudem jeweils den y-Achsenabschnitt und die Steigung an.

5.3.15 Beispiel (Funktionsvorschrift bzw. Geradengleichung ermitteln). Die folgende Abbildung zeigt den Graphen einer linearen Funktion, das heißt eine Gerade, die nicht parallel zur y-Achse verläuft.

Nach Bemerkung und Definition 5.3.9, sowie Satz 5.3.10, können wir ganz leicht eine passende Funktionsvorschrift bzw. Geradengleichung angeben, wenn wir die Steigung und den y-Achsenabschnitt des Graphen kennen.

In der obigen Zeichnung können wir den y-Achsenabschnitt einfach ablesen, da der Schnittpunkt des Graphen mit der y-Achse deutlich zu erkennen ist. (In Bemerkung 5.3.16 gehen wir darauf ein, wie man vorgehen kann, wenn das nicht der Fall ist.)

Hier liegt der Schnittpunkt in (0,2). Der y-Achsenabschnitt ist also gleich 2. Zum Berechnen der Steigung brauchen wir einen zweiten Punkt auf der Geraden. Dazu lesen wir einfach einen aus der Zeichnung ab, wie etwa (4,4).

Um die Steigung zu ermitteln, dividieren wir die Differenz der y-Koordinaten dieser beiden Punkte durch die Differenz ihrer x-Koordinaten und erhalten

4-−-2=  2=  1-
4 − 0   4   2
Die Steigung der abgebildeten Geraden beträgt also 1
2.

Damit haben wir y-Achsenabschnitt und Steigung ermittelt und können die entsprechenden Werte nun nutzen, um eine passende Geradengleichung

    1
y=  -x+ 2
    2
und eine passende Funktionsvorschrift
              1
f :ℝ → ℝ, x↦→  -x+ 2
              2
anzugeben.

5.3.16 Bemerkung. Was, wenn der Schnittpunkt des Graphen und der y-Achse nicht aus der Zeichnung abgelesen werden kann? (Das ist etwa dann der Fall, wenn der Schnittpunkt gar nicht in der Zeichnung abgebildet ist oder wenn die Koordinaten des Schnittpunktes nicht genau genug zu erkennen sind.) Dann ermitteln wir den y-Achsenabschnitt anhand der Steigung und eines beliebigen Punktes des Graphen.

Es sei etwa der folgende Graph gegeben:

Hier lässt sich der y-Achsenabschnitt zwar abschätzen, aber nicht genau erkennen. Wir suchen uns daher erst einmal zwei Punkte des Graphen, die wir gut ablesen können und berechnen aus ihnen die Steigung. Die beiden Punkte (1,1) und (4,3) etwa sind gut zu erkennen. Dividieren wir die Differenz der y-Koordinaten dieser beiden Punkte durch die Differenz ihrer x-Koordinaten, so erhalten wir

3-−-1=  2-
4 − 1   3
Das heißt, die Steigung beträgt 2
3.

Nach Bemerkung und Definition 5.3.9 hat die Geradengleichung die Form

y= ax + b,
wobei a der Steigung entspricht, sodass a = 2
3 gilt. Daher erfüllt jeder Punkt (x,y) auf dem Graphen die Gleichung
y = 2⋅x +b,
    3
wobei b der noch unbekannte y-Achsenabschnitt ist. Insbesondere erfüllen die beiden Punkte (1,1) und (4,3) diese Gleichung. Wir können also einfach einen davon in die Gleichung einsetzen und anschließend nach b auflösen.
pict

Also ist der y-Achsenabschnitt gleich 13 und die Geradengleichung lautet

    2-    1-
y = 3 ⋅x + 3
Dadurch ergibt sich
f :ℝ → ℝ, x↦→  2⋅x + 1-
              3     3
als passende Funktionsvorschrift.

Zur Kontrolle können wir überprüfen, ob auch der Punkt (4,3) die Geradengleichung erfüllt.

2-⋅4+ 1- =  8-+ 1- =  9- =  3
3     3     3   3     3
Also stellt in der Tat auch der Punkt (4,3) eine Lösung der Gleichung dar, was unser Ergebnis bestätigt.

5.3.17 Tipps (Funktionsvorschrift bzw. Geradengleichung ermitteln). Wie Beispiel 5.3.15 und Bemerkung 5.3.16 zeigen, hat man beim Ermitteln einer zu einem gegebenem Graphen passenden Funktionsvorschrift einige Freiheit, was den Lösungsweg betrifft. Insbesondere kann man die beiden Punkte des Graphen, die man zum Berechnen der Steigung verwendet, frei wählen. Wir wollen hier ein paar Tipps dazu geben, wie man diese Punkte vorteilhaft wählen kann.

Generell ist es sinnvoll, die beiden Punkte so zu wählen, dass sie ganzzahlige Koordinaten haben. Das vereinfacht in der Regel die Berechnung der Steigung. Betrachten wir dazu wieder den Graphen aus Beispiel 5.3.15.

Hier haben sogar die Schnittpunkte mit den beiden Koordinatenachsen ganzzahlige Koordinaten. Dies ist eine besonders günstige Situation, da die beiden Schnittpunkte jeweils 0 als eine Koordinate haben, was den Rechenaufwand nochmals verringert.

Eine weitere gute Taktik ist es, die beiden Punkte so zu wählen, dass ihre x-Koordinaten sich nur um 1 unterscheiden. Dadurch müssen wir bei der Berechnung der Steigung effektiv nicht mehr dividieren. Wählen wir etwa die Punkte (0,2) und (1,5
2), so ergibt sich die Steigung wie folgt:

5− 2      5− 2     5        5   4     1
2---- =  -2---  =  --− 2 =  --− -- =  --
1− 0       1       2        2   2     2
Man kann die Steigung in diesem Fall auch ohne Berechnung aus der Zeichnung ablesen.

5.3.18 Aufgabe. Gib zu jeder der folgenden drei Geraden eine passende Funktionsvorschrift an.

Dies sind dieselben Geraden wie in Aufgabe 5.3.6. Wenn du diese Aufgabe bereits bearbeitet hast, kannst du deine Ergebnisse hier gewinnbringend einsetzen.