6.6 Mehr zur Scheitelpunktform

Wir wollen uns nun damit befassen, wie man eine quadratische Funktion, die in der Form

ℝ → ℝ, x ↦→ ax2+ bx+ c    (Standardform )
gegeben ist, in Scheitelpunktform bringen kann. Um diese beiden Formen sprachlich voneinander zu unterscheiden, werden wir die obige Form auch als Standardform bezeichnen. Um das Umformen von Standardform auf Scheitelpunktform zu verstehen, müssen wir uns zunächst in Erinnerung rufen, wann zwei Abbildungen gleich sind.

6.6.1 Bemerkung. Zwei Abbildungen sind genau dann gleich, wenn sie den gleichen Definitionsbereich und den gleichen Wertebereich haben und alle Elemente des Definitionsbereichs genau gleich abbilden. Das heißt, zwei Abbildungen

f : Df → Wf , x↦→ f(x)
und
g: Dg → Wg, x↦→  g(x)
sind genau dann gleich, wenn Df = Dg, Wf = Wg und f(x) = g(x) für alle x im Definitionsbereich.

In Definition 6.3.1 haben wir festgelegt, dass sowohl der Definitionsbereich als auch der Wertebereich einer quadratischen Funktion immer ℝ sein soll. Um zu überprüfen, ob zwei quadratische Funktionen

                 2
f : ℝ→  ℝ, x↦→  ax + bx+ c
und
g : ℝ → ℝ, x↦→  ux2+ vx+ w
übereinstimmen, müssen wir also nur noch überprüfen, ob für alle x ∈ ℝ gilt, dass f(x) = g(x) ist. Dies ist genau dann der Fall, wenn a = u, b = v und c = w ist, das heißt wenn die Vorfaktoren von x2 und x, sowie die konstanten Terme übereinstimmen.

6.6.2 Beispiel. Obwohl die beiden quadratischen Funktionen

                2
f1 : ℝ → ℝ, x↦→  x + 2x+ 3
und
                     2
f2 : ℝ → ℝ, x ↦→ (x+ 1) + 2
zunächst unterschiedlich aussehen, sind sie doch gleich. Dies können wir einsehen, indem wir die Funktionsvorschrift von f2 mit Hilfe der ersten binomischen Formel - oder einfach durch Ausmultiplizieren - umformen.
            2        2              2
f2(x)= (x +1) + 2 = (x + 2x+ 1)+ 2=  x + 2x+ 3= f1(x)
Nun kann man direkt sehen, dass f1 und f2 übereinstimmen.

6.6.3 Beispiel. Aber wie hilft uns das die eine Form in die andere Umzurechnen? Angenommen, wir haben die quadratische Funktion

                 2
f : ℝ → ℝ, x↦→  2x − 4x+ 3
in Standardform gegeben und wollen sie in Scheitelpunktform
                      2
f : ℝ → ℝ, x ↦→ r⋅(x− s) + t
bringen. Das heißt, wir wollen die Parameter r, s und t so wählen, dass
       2         2
r⋅(x − s) + t = 2x  − 4x + 3
gilt. Dazu multiplizieren wir die Scheitelpunktform erst einmal aus.
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Wir suchen also r, s und t, welche die Gleichung

rx2− 2rsx+ rs2 + t =  2x2− 4x+ 3
für alle x ∈ ℝ erfüllen. Wie wir oben (in und nach Bemerkung 6.6.1) erwähnt haben, müssen dazu die Vorfaktoren von x2 und x, sowie die konstanten Terme auf beiden Seiten übereinstimmen. In diesem Fall heißt das, dass für r, s und t Folgendes gelten muss:
  r    =    2

− 2rs  =   − 4
rs2+ t =    3
Die erste Gleichung sagt uns direkt, dass r = 2 sein muss. Wir können r also in den anderen beiden Gleichungen durch 2 ersetzen, sodass wir uns nur noch darum kümmern müssen, dass s und t die folgenden Gleichungen erfüllen:
 − 4s  =   − 4
2s2+ t =    3
Die obere dieser beiden Gleichungen können wir in s = 1 umformen, sodass wir nun auch wissen, wie s auszusehen hat. Setzen wir diesen Wert nun noch in die untere Gleichung ein, so können wir auch den Wert von t bestimmen.
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Wir haben nun alle drei Parameter bestimmt. Die Funktion f hat also die folgende Scheitelpunktform

f : ℝ→  ℝ, x↦→  2⋅(x− 1)2+ 1
Zur Probe multiplizieren wir diese noch aus
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und sehen dadurch, dass das Ergebnis in der Tat mit der Standardform

                 2
f : ℝ → ℝ, x↦→  2x − 4x+ 3
von f übereinstimmt.

6.6.4 Rezept. Wir fassen die obige Vorgehensweise zusammen. Gegeben sei eine quadratische Funktion

                 2
f : ℝ→  ℝ, x↦→  ax + bx+ c
in Standardform. Wir wollen die Funktionsvorschrift so umformen, dass f in Scheitelpunktform
f : ℝ → ℝ, x ↦→ r⋅(x− s)2+ t
erscheint. Das heißt, wir suchen r, s und t welche die Gleichung
r⋅(x − s)2+ t =   ax2 + bx+ c
für alle x ∈ ℝ erfüllen. Nach Ausmultiplizieren der linken Seite sieht die Gleichung so aus:
  2          2         2
rx − 2rsx+ rs + t =  ax + bx+ c
Wir wollen, dass die Vorfaktoren von x2 und x, sowie die konstanten Terme auf beiden Seiten gleich sind. Das heißt, wir müssen r, s und t so wählen, dass die drei Gleichungen
  r    =  a
− 2rs  =  b
rs2+ t  =   c
erfüllt sind. Wir erhalten also direkt, dass r = a sein muss. Nach Einsetzen von r = a können wir die zweite Gleichung nach s auflösen. Setzen wir dann beide Werte in die dritte Gleichung ein, so können wir schließlich t ausrechnen.

6.6.5 Aufgabe. Bringe die folgenden, in Standardform gegebenen quadratischen Funktionen in Scheitelpunktform. Mache jeweils eine Probe, ob dein Ergebnis stimmt. Gib zudem jeweils den Scheitelpunkt des zugehörigen Graphen an.

1.
f1 :  ℝ → ℝ, x↦x2 −6x+9
2.
f2 :  ℝ → ℝ, x↦2x2 +4x+5
3.
f3 :  ℝ → ℝ, x↦−3x2 +30x−64
4.
f4 :  ℝ → ℝ, x↦12x2 +4x+7
5.
f5 :  ℝ → ℝ, x↦13x243x+2
6.
f6 :  ℝ → ℝ, x↦0,2⋅x2 −0,6⋅x+0,95

6.6.6 Aufgabe. Die folgenden quadratischen Funktionen sind schon in Scheitelpunktform gegeben. Bringe sie in Standardform.

1.
f1 :  ℝ → ℝ, x↦3⋅(x−1)2 +1
2.
f2 :  ℝ → ℝ, x↦−2⋅(x+4)2 −1
3.
f3 :  ℝ → ℝ, x↦−53 ⋅(x+1)2 −0,2
4.
f4 :  ℝ → ℝ, x↦0,3⋅(    )
 x− 532 +16

6.6.7 Aufgabe. Die folgenden quadratischen Funktionen sind weder in Standardform noch in Scheitelpunktform. Forme sie zunächst in Standardform um und bringe sie dann auf Scheitelpunktform.

1.
f1 :  ℝ → ℝ, x↦3⋅(x−1)⋅(x+1)+3x+2
2.
f2 :  ℝ → ℝ, x↦x
3 ⋅(3x−12)+4

6.6.8 Bemerkung. Aus der allgemeinen Formulierung von Rezept 6.6.4 können wir uns auch eine Formel zum Ermitteln der Scheitelpunktform basteln. Dazu steigen wir im Rezept an dem Punkt ein, an dem wir das Gleichungssystem

  r    =  a
− 2rs  =  b
rs2+ t  =   c
lösen müssen. Wir sehen direkt, dass r = a gelten muss. Setzen wir diesen Wert in die zweite Gleichung ein und lösen nach s auf
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so sehen wir, dass s = −2ba sein muss. Setzen wir nun die berechneten Werte von r und s in die dritte Gleichung ein und lösen nach t auf

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so erhalten wir schließlich auch den Wert, den t haben muss. Wir fassen diese Berechnungen in der folgenden Formel zusammen.

6.6.9 Formel. Gegeben sei eine quadratische Funktion

f : ℝ→  ℝ, x↦→  ax2+ bx+ c
in Standardform. Wir wollen die Funktionsvorschrift so umformen, dass f in Scheitelpunktform
                      2
f : ℝ → ℝ, x ↦→ r⋅(x− s) + t
erscheint. Dies lässt sich bewerkstelligen, indem man r, s und t wie folgt wählt:
r =     a
         b
s =   − ---
        2a
t =   c− b2-
         4a
Die Scheitelpunktform von f ist also durch
                (     b)2      b2
f : ℝ → ℝ, x↦→ a⋅  x+ 2a-  + c− 4a-
gegeben. Der Scheitelpunkt des Graphen von f liegt daher in
(   b      b2)
  − --, c− ---
    2a     4a

6.6.10 Beispiel. Wir betrachten die quadratische Funktion

f : ℝ → ℝ, x ↦→ 3x2− x +5
Um f in Scheitelpunktform zu bringen wenden wir Formel 6.6.9 an.
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Also ist

                (    1)2   59
f : ℝ → ℝ, x ↦→ 3⋅ x− 6-  + 12-
die Scheitelpunktform von f.

6.6.11 Aufgabe. Bearbeite Aufgabe 6.6.5 erneut, nur dass du die Scheitelpunktform diesmal mit Hilfe von Formel 6.6.9 berechnest.

Wir haben schon zwei Möglichkeiten gesehen, eine in Standardform gegebene quadratische Funktion in Scheitelpunktform zu bringen: In Rezept 6.6.4 ermitteln wir die entsprechenden Parameter durch Lösen eines Gleichungssystems und mit Hilfe von Formel 6.6.9 können wir die Parameter direkt ausrechnen, was gewissermaßen eine Abkürzung von Rezept 6.6.4 darstellt.

Wir werden nun noch eine dritte Möglichkeit kennenlernen. Diesmal formen wir direkt die Funktionsvorschrift um. Dabei benutzen wir, wie in Abschnitt 6.1 angekündigt, die quadratische Ergänzung. Wir zeigen dies zunächst wieder an einem Beispiel und formulieren danach die allgemeine Vorgehensweise.

6.6.12 Beispiel. Wir betrachten die quadratische Funktion

                 2
f : ℝ → ℝ, x↦→  3x − 6x+ 5
Da wir in unseren Erläuterungen zur quadratischen Ergänzung immer die Situation hatten, dass der Vorfaktor von x2 gleich 1 war, müssen wir auch hier irgendwie in diese Situation gelangen. Wir stellen sie künstlich her, indem wir den Faktor vor x2 ausklammern
f(x) = 3x2− 6x+ 5 = 3⋅(x2− 2x)+ 5
und uns dann nur noch mit dem Ausdruck (x2 −2x) in der Klammer beschäftigen. Wir vollführen nun eine quadratische Ergänzung, indem wir geschickt die 0 addieren.
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Nun können wir die zweite binomische Formel anwenden und erhalten

x2− 2x = (x− 1)2− 1
Wir benutzen dies, um die Funktionsvorschrift von f weiter umzuformen
          2             (      2   )
f(x)= 3⋅(x − 2x)+ 5 = 3⋅ (x− 1) − 1  +5
Wenn wir nun noch die äußere Klammer auflösen und zusammenfassen, haben wir die Scheitelpunktform hergestellt.
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6.6.13 Bemerkung. Wir können die in Beispiel 6.6.12 gemachten Umformungen zur besseren Übersicht auch am rechten Rand notieren, genau wie beim Umformen einer Gleichung.

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6.6.14 Rezept. Gegeben sei eine quadratische Funktion

f : ℝ→  ℝ, x↦→  ax2+ bx+ c
in Standardform. Wir wollen die Funktionsvorschrift mit Hilfe einer quadratischen Ergänzung so umformen, dass f in Scheitelpunktform erscheint. Kurz zusammengefasst führen wir dabei die folgenden Schritte aus:
1.
a ausklammern,
2.
quadratische Ergänzung durchführen,
3.
binomische Formel anwenden,
4.
äußere Klammer auflösen (falls vorhanden),
5.
vereinfachen/zusammenfassen.

6.6.15 Bemerkung. Der Vollständigkeit halber führen wir diese Methode auch noch an einer allgemeinen quadratischen Funktion

                 2
f : ℝ→  ℝ, x↦→  ax + bx+ c
vor.
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Die Scheitelpunktform von f ist also durch

                (      )2        2
f : ℝ → ℝ, x↦→ a⋅  x+ -b-  + c− b--
                     2a        4a
gegeben. Ein Vergleich zeigt, dass dies dasselbe Ergebnis wie in Formel 6.6.9 ist.

6.6.16 Aufgabe. Bearbeite Aufgabe 6.6.5 erneut, nur dass du die Scheitelpunktform diesmal mit Hilfe der quadratischen Ergänzung berechnest.

6.6.17 Tipps. Wir haben nun drei Möglichkeiten gesehen, wie eine in Standardform gegebene quadratische Funktion in Scheitelpunktform gebracht werden kann. Wenn du die Aufgaben 6.6.5,  6.6.11 und 6.6.16 bearbeitet hast, hast du wahrscheinlich ein Gefühl dafür, welche Methode dir am besten gefällt. Generell ist es vernünftig dann eben diese Methode zu benutzen. Dennoch ist es vorteilhaft, alle drei Vorgehensweisen verstanden zu haben. So könnte eine Aufgabe von dir verlangen, eine bestimmte der drei Methoden zu verwenden. Das könnte dann die Methode sein, die du am liebsten verwendest. Es könnte aber auch die sein, die du womöglich vernachlässigt hast, weil sie dir nicht zusagt.

Wir wollen noch einen entscheidenden Vor- und einen entscheidenden Nachteil der Formel 6.6.9 gegenüber den Rezepten 6.6.4 und 6.6.14 erwähnen. Der Vorteil ist recht offensichtlich: Beim Benutzen der Formeln brauchst du einfach nur ein paar Werte einzusetzen und hast dann die Lösung. Diese Methode ist also potenziell sehr schnell. Der Nachteil besteht darin, dass dabei nicht ersichtlich ist, was überhaupt vor sich geht. Du setzt eben einfach nur ein paar Werte ein und hast dann die Lösung. Deshalb solltest du versuchen zu verstehen, was hinter den Kulissen vor sich geht, bevor du die Formel benutzt.

Ein weiterer Nachteil der Formel-Methode besteht darin, dass du auf eine Aufgabe vermutlich sehr wenige oder gar keine Punkte bekommen wirst, wenn du die Formel falsch anwendest. Wenn du aber eine der beiden anderen Methoden benutzt und dich zwischendurch verrechnest, ist vermutlich immer noch ersichtlich, dass du verstanden hast, worum es geht. Dementsprechend ist es gut möglich, dass du trotz des Rechenfehlers einen Großteil der Punkte bekommst. Im Zweifelsfall solltest du vor einer Arbeit mit deinem Lehrer über die angelegten Bewertungsrichtlinien sprechen.